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Bedingungslos im Jetzt! Über Kinder. Und uns selbst.

Über Kinder. Über Bedingungslosigkeit. Über Vorurteile. Über das Leben im Jetzt.

„Nur wer erwachsen wird und ein Kind bleibt, ist ein Mensch“ – Erich Kästner

Kinder sind etwas Schönes. Wenn sie denn abends wieder in ihr eigenes Heim gehen, zu Mama und Papa. So denke ich schon seit Jahren – und das ist ein Fortschritt. Noch früher, und Kinder gingen für mich gar nicht. Ich konnte nichts mit ihnen anfangen.

Kinder

Jetzt!

Heute bin ich dankbar dafür, dass sie ab und zu um mich herum sind. Dass sie mich fordern, mich zur permanenten Aufmerksamkeit zwingen. Zu vollkommener Präsenz. Denn das ist ihre große Gabe. Sich selbst und alle anderen um sie herum im Jetzt zu halten. Nicht früher, nicht später! Jetzt, immer nur jetzt!

Wohin haben wir Erwachsenen uns nur verloren? In welcher Zeit leben wir eigentlich? Immer im Gestern, mit dem „Hätte ich doch“. Oder immer im Morgen, mit dem „Könnte ich doch“. Wir sind anwesend, zu jedem Termin und allem Schei**. Doch sind wir nie präsent.

Bedingungslos!

Kinder sind bedingungslos. Sie stellen sich nicht hin und sagen: „Wenn, dann..!“ Sie sagen nicht: „vielleicht, später, mal sehen, lass uns noch mal drüber reden…“ Da gibt es nur Ja und Nein, ich will oder ich will nicht.

Wann sind wir Erwachsenen bedingungslos? Vielleicht als Finanzbeamter, Abmahner, Fallbetreuer? Selbst dann nicht. Nichts gibt es umsonst in unserer Erwachsenenwelt, alles will verdient, erobert, erkämpft, erarbeitet werden. Alles ist an Bedingungen geknüpft. Selbst dies: „Gibt der Tante erst die Hand, dann bekommst du auch ein Eis“.

Urteilsfrei!

Kinder sind ohne Vorurteil. Für sie ist die Welt erst einmal neutral. Ihren Wertekanon erarbeiten sie sich selbst. Durch Erlebtes und Vorgelebtes. Bei ihnen gehen keine Schubladen auf, bei ihnen wirst du nicht abgestempelt. Bist ohne Stigma. Du bist. Punkt.

Wie schnell sind wir Erwachsenen mit unserem Urteil? Wie schnell urteilen wir vorschnell. Weil wir neu Erlebtes und Vorgelebtes fortwährend mit alten Erfahrungen abgleichen. Und  alte Erfahrungen sind gesetzt, sind Gesetz. Und das Neue wird fremd, befremdlich. Wird unsicher, verunsichert.

Leben

Stöcke und Beine

Ich habe MS. Ich laufe an Stöcken. Ich laufe nicht weit, und das auch noch schlecht.

Und doch muss ich die Stöcke herausrücken, wenn Kinder sie sehen. Weil sie wissen wollen, wie es sich läuft mit Stöcken. Hat ja nicht jeder.

Und doch muss ich die Frage beantworten: „Warum läufst du so komisch? Warum brauchst du die Stöcke?“ – Seit Jahren feile ich an einer Antwort, die weder unter- noch überfordert. Die nichts verschweigt und doch nicht zum Vortrag ausufert.

Ich begann mit: „Meine Beine sind krank.“ Irgendwann später, da das Kind auch älter wurde, stellte ich die Gegenfrage, nach der einfachen oder der ehrlichen Antwort. Und ich sollte die ehrliche Antwort geben. Deren ausgefeilte, immer noch kindergerechte Variante geht so: „Mein Gehirn ist krank. Besonders die Stellen, die das Laufen bestimmen. Dadurch kann das Gehirn meinen Beinen nicht mehr richtig sagen, wie Laufen geht. Und deswegen machen das meine Beine nicht immer richtig.“

Jeder Erwachsene reagiert bestürzt, mitleidig, verschämt. Die Kinder sagen: „Ach so, ok.“ Fertig ist der Lack. Marit ist die mit den Stöcken.

Faux pas und großes Kino

Ich habe einen kleinen Spielzeug-Lokomotiv-Wagen. Dem fehlt seit gut 31 meiner 39 Lebensjahre eine Achse und somit 2 Räder. Ein schwerer Faux pas. Wie soll das denn jetzt bitte gehen mit dem Wagen und der Lok?

Was ich achselzuckend hinnehme, ist ein großes Thema.

Quelle: Marit Mueller
064_Faux pas (Foto: meins)

Was ich dann aber beobachte, ist für mich großes Kino: Die Baustein-Kiste versperrt den Weg zum einachsigen Lokomotiv-Wagen. Ich sehe wie es im Kopf arbeitet, wie abgeschätzt und abgewogen wird. Und dann: ein großer, beherzter Schritt. Kind und Kiste bleiben heil. Der Wagen bleibt kaputt. Ich selbst wäre um die Kiste meilenweit drumherum gelaufen. Denn wenn das schief gehen würde, das mit dem Abschätzen und Bein heben und Gleichgewicht halten…

Ganz nah dran

Ich war noch nie eine, die sich aufdrängt. Ich lasse die Menschen gern auf mich zu kommen. Die großen und besonders auch die kleinen Menschen. Nichts ist schlimmer als gedrängt zu werden zu geheuchelten Gesten der Achtung, der Liebe, der Anerkennung…

Und so ist es auch diese kleine, verspielte Geste, die Achtung und Annehmen des Anderen ausdrückt. Wenn sich im Aufbruch nach Hause zu Mama und Papa das kleine Gesicht ganz nah vor meines stellt und wir uns beide mit großen Augen zu einem beinahe Eskimo-Kuss hinreißen lassen.

Dann ist klar, dass sich gegenseitige Achtung nicht durch bunte Plastik und großes Trara erkaufen lässt…

Stille

Ich schreibe so locker über „die Kinder“ um mich herum. Als wäre das so selbstverständlich. Doch seit 1 1/2 Jahren war gestern der erste Tag mit einem knapp zweieinhalbjährigen echten Kind!

Denn seit über 1 1/2 Jahren habe ich keinen Kontakt mehr zu meiner Nichte und meinem Neffen. Jenen Kindern, die doch am nächsten am mir dran sein sollten. So die Familienidylle.

Sind sie aber nicht. Das Warum kann ich gar nicht mal genau benennen. Irgendwann im vorletzten Herbst hat meine Schwester entschieden, dass ihr der Rest ihrer Familie nicht gut tut und nichts Gutes will. Auf all diese Einstellungen, Meinungen und Urteile hat sie ein Recht. Und niemand hat einen Anspruch auf Familienidylle.

Meine Nichte ist mit Schreibdatum im Sommerhalbjahr der dritten Klasse, mein Neffe in der ersten. Ich hätte nie gedacht, dass mich zwei kleine, anstrengende Nervensägen so für sich einnehmen können. Dass ich so viel von ihnen lernen könnte, über das gelingende Leben, über das Hier und Jetzt, die eigenen Gefühle.

Lange Zeit hat mich die Stille ohne Schwester und Schwester-Kinder nicht sonderlich belastet. Soll sie doch ihr Ding machen.

Heute dröhnt sie mir in den Ohren, sie füllt alle Räume im Haus und in mir selbst. Die Stille.

Heute bricht sie sich Bahn, heute Abend lastet sie schwer auf mir. Zeigt sich nicht als Erholung, nach trubeligen Kinderstunden.

Zeigt sich als große Leere.

Ich habe kein Fazit für dich Leser. Nur mahne ich zum Genießen, zum Auskosten jener Stunden, in denen dir all dein Wissen, deine Vernunft, deine Verdienste nichts nützen. Weil du einem Kind gegenüber stehst. Ganz echt und ganz im Jetzt.


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Bildquellen

  • 064_Faux pas: Marit Mueller
  • 064_BlogImage: Marit Mueller

Dieser Beitrag hat 4 Kommentare

  1. C
    Claudi

    Wow Marit. Das ist mal wieder so tiefgründig und überwältigend. Das hat mich zum nachdenken gebracht und mir die Tränen in die Augen getrieben… Du hast wirklich eine ganz große Gabe! hdl

    1. M
      Marit Mueller

      Danke, liebe Claudi!
      Es gibt Zeiten und Erlebnisse, die nur auftauchen, damit ich meine Lektion übers Leben lernen kann. Und die es wert sind, aufgeschrieben zu werden. So war es auch hier… Das Leben ist ein großes Abenteuer! Ich drück‘ dich!

  2. M
    Marie

    Liebe Marit! Hoffentlich war es nicht zu anstrengend und zu laut für Euch mit uns. Denn das ist meine Angst gewesen, dass wir die heilige Stille und Ruhe, die bei Euch herrscht, gestört haben. Aber so sind wir halt und es wird nicht besser, fürchte ich. Wiederholung unbedingt nicht ausgeschlossen! Wir waren schwer begeistert von Euch! Hinterher sehr traurig auf dem Heimweg. Marit – wir sind auch immer die Deinen!

    1. N
      NAME

      Liebe Marie, ja ich mag die Stille. Nur war sie diesmal halt anders. Weil sie mich den Verlust hat erleben lassen. Weil sie halt doch fehlen, Nichte und Neffe. Weil die Stille „danach“ ja zeigt, wie viel gutes Leben „mittendrin“ möglich ist. Ich bin so eine Nutznießerin der wilden Kinderstunden: Da kannste nicht einfach abschalten, da spürste dein Gehirn denken. Und du lernst nochmal neu, was Leben bedeutet. Voll die Therapie. Danach voll die Erholung! Wie schreibt der zufriedene Kunde: „Gern wieder!“ Tür und Herz stehen weit auf!

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