Im zweiten Drittel meines Aufenthalts im Ayush Prana lenke ich meine Aufmerksamkeit auf das Thema Barrieren.
Eine barrierearme Umgebung ist für Menschen mit Einschränkungen jedweder Art eine wichtige Sache. Gleichzeitig ist aber auch verständlich, dass eine 100%-ige Barrierefreiheit nur selten zu erreichen ist. Nicht mal in unserem durchgeplanten „Vorzeige“-Deutschland…
Erlaubt diese doch ein selbstständiges, freies, kommunikatives und (vor-)urteilsfreies Leben.
Barrieren baulicher Art
Ich darf sagen, dass sich seit meinem letzten Aufenthalt im Ayush Prana einiges getan hat hinsichtlich der Reduzierung von Barrieren und Stolperfallen. Das ist auf jeden Fall gut!
Viele Wohnhaus-Eingänge haben eine Rampe erhalten, die den stufenfreien Zugang erlauben. Allerdings haben die Rampen Neigungen von ca. 4 bis zu 12 Prozent, was den eigenständigen Zugang mittels Rollstuhl oder Gehhilfe für den einen erleichtern, für den anderen erschweren kann. Ein zusätzliches Geländer zur Absicherung auf den Rampen wäre auf jeden Fall hilfreich und kann hier sicher noch nachgerüstet werden.
Quelle: Marit Mueller Quelle: Marit Mueller Quelle: Marit Mueller
Prinzipiell haben es die Inder ja nicht so mit Geländern. Wie in den deutschen Bauvorschriften, die da sagen „Geländer erst ab mehr als 3 Stufen“.
Einige Unterkünfte liegen im Obergeschoss und sind nur über eine Treppe, mit Handlauf, zu erreichen. Zugang zur Treppe gibt es wiederum über 2 bis 3 Stufen.
Der Rundweg im Center ist mit großen Platten belegt, mit schönen Fliesenscherben geschmückt und relativ eben. Nur zwei Höhensprünge bieten hier eine Herausforderung fürs Laufen. Die Höhenunterschiede werden auch hier mit kleinen betonierten Rampen ausgeglichen.
Die Eingangstüren haben in vielen Fällen Schwellen. Das ist gut, denn sie reduzieren die Insekteninvasion. Gleichzeitig sind sie halt auch Stolperfallen und man sollte ganz bewusst laufen.
Die Bäder der Unterkünfte reichen in ihren Dimensionen von winzig bis riesig. Die Böden sind gefliest, allerdings nicht mit rutschhemmendem Material. Handgriffe o.ä. Hilfsmittel sind nicht angebracht, können aber nachgerüstet werden.
Mein Fazit zur baulichen Barrierefreiheit fällt durchwachsen aus. Solange ich keine Einschränkungen in der Mobilität habe, ist das Leben im Ayush Prana für mich ohne Probleme möglich. Herausforderungen zeigen sich, sobald ich eingeschränkt bin in meinen Bewegungen oder meinem Bewegungsradius. Wenn ich Hilfsmittel benutze oder auf Unterstützung durch andere angewiesen bin. Dann ist ein Aufenthalt ohne Begleitung unter Umständen mühsam, anstrengend.
Meine ersten beiden Aufenthalte habe ich allein bestritten, weil ich damals, im Vergleich zum momentanen Zustand, mehr Kraft hatte und ohne Unterstützung gelaufen bin. Erst zum Ende meiner zweiten Behandlung fing ich an, meine Walking Stöcke zu benutzen. Weil ich mich schlapp und nach einem Sturz sehr unsicher fühlte.
Nun, bei meinem dritten Aufenthalt habe ich mich bewusst dazu entschieden, eine Begleitung mitzunehmen. Alleine wäre ich nicht wieder gekommen.
Ich laufe derzeit mit einer Fußheberorthese an zwei Walking Stöcken. Ich kann kurze Strecken gut laufen, brauche aber Pausen und habe Probleme mit dem Gleichgewicht. Ohne zwei freie Hände wäre die Selbstversorgung am Speisenbuffet für mich schwierig. Der Transport von Wasser- und Teeflaschen wäre ebenfalls schwierig. Die Bewältigung der Wege und Rampen wäre schwierig. Nicht unmöglich, aber schwierig halt. Mit mehr Kraftaufwand verbunden…
Bei all dem hilft mir mein Micha. Meine Begleitung, mein Bystander. Meine logistische und moralische Unterstützung.
Quelle: Marit Mueller
Barrieren sprachlicher Art
Die Kommunikation im Ayush Prana läuft in englischer Sprache. Zwischen mir und den Ärzten, mir und den Therapeuten und auch dem Personal. Ohne Englisch läuft nichts und eine Garantie, dass gleichsprachige Patienten zeitgleich mit mir hier sind, gibt es nicht.
Also Englisch. Dabei hat das indische Englisch bekanntlich seine dialektischen Eigenheiten. Das Englisch der Therapeuten ist leider bei den meisten recht begrenzt. Und hat seine Tücken im Verstehen. Die Anweisung während der Behandlung „turn back“ bedeutet mitnichten, „dreh dich zurück“ oder „dreh dich auf den Rücken“, sondern vielmehr „dreh dich auf den Bauch, damit ich an deinen Rücken komme“. Das hat mich zu Beginn verwirrt, aber Umdenken hilft hier.
Die Nationalitäten- und Sprachenvielfalt, die ich während meiner ersten Aufenthalte unter den Patienten erlebte, hat während meines dritte Aufenthaltes leider abgenommen. Derzeitiges Verhältnis: 70% bulgarisch, 20% Hindi o.a. indische Nationalsprachen, 10% deutsch. Ein Austausch zwischen den Nationen findet dabei aber nur begrenzt statt.
Barrieren kultureller Art
Im Ayush Prana lassen sich sowohl die national kulturellen Eigenheiten der Patienten als auch die der Angestellten beobachten.
Einige Patienten sind oft und gerne dabei, die Küche zu entern, in die Töpfe mit dem Essen der Angestellten zu gucken, das Essen selbst ausführlich am Speisenbuffet mit den Fingern zu testen. Das macht auf mich keinen guten Eindruck. Man möge mich eines Besseren belehren, wenn ich in meiner Einschätzung falsch liege…
Einige Patienten haben die Eigenart, lautstark und über Freisprechen zu telefonieren. Oder auch mal den Garten mit Musik zu fluten…
Tja und wir deutschen Patienten? Ich erlebe ein gedämpftes Status-Getue mit der Unart, entweder ein Thema unpassend auf den Tisch zu werfen, oder das Gesagte abzubügeln (also erst bedürftig klingen und den Ratschlag dann aber als unnötig abzulehnen).
Die Keralesen wiederum haben ein gesundes Verhältnis zu ihren körperlichen Bedürfnissen. Sie machen Bäuerchen und kennen keine Taschentücher sondern „ziehen die Nase hoch“. Das wirkt erst einmal befremdlich, ist aber gesünder als unsere europäische Verkniffenheit… Schon Luther stellte die Frage „Warum rülpset und furzet ihr nicht…“
Brücken verbinden
Das Leben im Ayush Prana wie in Indien selbst ist voller Widersprüche. Voll mit Dingen, an denen ich mich reiben, an denen ich mich emotional abarbeiten kann. So wie das Leben insgesamt voller Widersprüche ist. Nur erlebe ich sie im Alltag weniger stark. Weil ich an sie gewöhnt bin, weil sie im Getöse untergehen. Weil ich sie ignoriere.
Und hier zeigen sich die Brücken, die ich schlagen kann. Vor allem Brücken zu meinem Ego, meinem Geist. Diesem Plappermaul, das so gerne alles interpretiert, bewertet, vorausplant, erklärt. Ich kann hier mein Ego beim Plappern beobachten und darüber staunen, welche Kreise meine Gedanken ziehen. Und diese Gedanken hier ziehen lassen. Und so kommt es, dass es oft so still ist im Kopf. Und ich einfach in dieser Stille bin…
Gleichzeitig kommen aber auch immer wieder meine weniger guten Eigenheiten hoch. Mein Hang zum geistigen Multitasking, der oft in Stolperei oder Kopfwirrwarr endet. Wenn ich nicht aufpasse, kann ich mich hineinsteigern in schlechte, destruktive Gedanken, in unnötige Jammerei.
Und ich weiß nicht warum, aber wenn ich nicht gut drauf bin, dann passiert immer etwas sehr Schönes. Sadi, unsere Putzfrau, kommt vorbei und fragt „Marit, how are you?“ Oder Lissy, eine Arbeiterin, knuddelt mich und erzählt dabei in schnellem Malayalam, ohne dass ich etwas verstehe. Oder Sushila, amüsiert sich in der Küche, weil ich wieder mal einem Rezept auf der Spur bin.
Brücken aus Empathie und einem freundlichen Lächeln bringen Freude und ein Wohlgefühl für beide Seiten. Da sind Sprachbarrieren nicht mehr so wichtig…
Und es sind die kleinen Dinge und Begegnungen, die das Leben hier bereichern. Die die Tage des Einklangs unterscheidbar machen. Und eben auch besonders.
Bearbeitungsstand: 04/2017
Für mehr Informationen zur Behandlung: www.msayurveda.com
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Bildquellen
- 042_Rampe vor meinem Wohnraum: Marit Mueller
- 042_Rampe: Marit Mueller
- 042_Rampe an einem Cottage: Marit Mueller
- 042_Garten: Marit Mueller
- 042_BlogImage: Marit M
ich glaube, wir alle (also MS-Patienten) sind hypersensibel und zwischenmenschliche, positive Kontakte auch über Sprachbarrieren hinweg sind extrem wichtig für uns. Evtl. noch wichtiger als sie sowieso für alle Menschen sind.
Ein “guter” Arzt ist für mich nicht zwangsläufig der am besten ausgebildete Arzt.
Lieber Christoph, da hast du total recht… Am Ende verstehen wir uns auf einer ganz tiefen Grundlage – einfach weil wir Menschen sind. Und ich stimme dir auch zu, was den „guten“ Arzt angeht. „Gut“ heißt auch, empathisch zu sein, deine Bedürfnisse zu respektieren, Austausch zuzulassen…
Dir alles Gute! Herzliche Grüße
Marit