Was soll das heißen? Sollte nicht der Kreis mathematisch ins Quadrat gequetscht werden? Richtig. Und dieses mathematische Problem ist meines Wissen immer noch nicht gelöst. Viel besser steht’s um das sogenannte Stufentherapie-Schema der Therapie-Leitlinie für MS.
Und darum geht es heute:
Diese Therapie-Leitlinie wurde vor einiger Zeit durch die DGN (Deutsche Gesellschaft für Neurologie) und das KKNMS (Krankheitsbezogenes Kompetenznetz Multiple Sklerose) überarbeitet und an den aktuellen Stand der Forschung angepasst. Ziel dabei ist eine optimale Behandlung von MS-Schub und MS-Symptomatik. [2]
Mit der Überarbeitung befreiten die DGN und das KKNMS das entsprechende Stufentherapie-Schema aus seinem starren Dreiecks-Korsett [1] und überführten es in eine geschmeidige, rechteckige Matrix [2].
Die Leitlinie richtet sich vorwiegend an das Fachpersonal. Neurologen, Nervenärzte. Ambulant, in der Klinik, in der Rehabilitation.
Die Leitlinie betrifft aber die medizinische Versorgung von Menschen mit Multipler Sklerose. Also Dich. Und mich. Und ich bin so frei, Dich und mich ebenfalls als Menschen “vom Fach” zu bezeichnen. Denn wer ist näher an der MS, als der Mensch mit MS!? – Eben.
Von daher lohnt sich ein Blick auf das überarbeitete Stufentherapie-Schema. Ich stelle Dir im Folgenden beide geometrischen Formen vor: Das alte Dreieck. Das neue Quadrat. Und ziehe am Ende mein persönliches, subjektives Fazit.
Das Dreieck – Stufentherapie-Schema old-fashioned
Im Jahr meines Einstieges in die MS – 2001 – sah das Behandlungsschema der Schulmedizin sehr übersichtlich aus:
Schubtherapie – Basistherapie – Eskalationstherapie.
Hattest Du einen Schub, gab’s eine Ladung Cortison (Methylprednisolon).
Mit der Idee, dass die MS i.d.R. erst einmal einen schubförmigen Verlauf nimmt, bist Du dann in die Basistherapie umgestiegen. Für mich hieß das 2001, die Wahl zwischen 3 Interferon-Präparaten zu haben. Die Medikamente der Basistherapie wirkten vorwiegend immunmodulatorisch – da wurde der Immunabwehr “moderat ins Handwerk gepfuscht”, ihr also “gezeigt, wo es lang geht”.
Und wenn diese Medikamente ihren Dienst versagten, kam die Eskalationstherapie zum Einsatz. Mit Medikamenten, welche immunsuppressiv wirkten und teilweise ihren ursprünglichen, zytostatischen Einsatzbereich in der Krebstherapie hatten – das waren dann “Hau drauf”-Methoden, bei der die Immunabwehr gar nix mehr zu sagen hatte.
Warum hieß und heißt das eigentlich Eskalations- statt Deeskalationstherapie? … Wie auch immer. Schon 2001 wollte ich da niemals nie nicht hinkommen. Das klang bereits 2001 wie Kampfansage pur.
Die Rechteck-Matrix – Stufentherapie-Schema re-loaded
Ich liebe Matrizen. Sie ordnen das Chaos. Sie bieten Übersicht. Ich sortiere mich in Zeile und Spalte ein, und haste-nich’-geseh’n lande ich im für mich passenden Quadranten. Wenn ich denn eine schulmedizinische Behandlung wünsche.
Platz für Neues. Neue Medikamente. Neue Formulierungen. Neue Optik.
Der Begriff Schubtherapie wird beibehalten; es werden hierfür nun zwei Therapieoptionen angeboten.
Die Begriffe Basis- und Eskalationstherapie werden aufgegeben. Dafür werden verlaufsbeschreibende Begriffe (in den Zeilen) eingeführt: mild/moderat und (hoch-)aktiv. Die Verläufe selbst werden nochmals differenzierter (in den Spalten) dargestellt: CIS (klinisch isoliertes Syndrom), schubförmige Verläufe (als RRMS zusammengefasst), progrediente Verläufe (als SPMS zusammengefasst). Die Worte immunmodulatorisch und immunsuppressiv werden zusammengefasst zu verlaufsmodifizierend. Das ist clever formuliert. Ich habe mir erlaubt, in der nachfolgenden Grafik die Wirkungsweisen der einzelnen Stoffe über Indizes einzufügen. Denn die fehlen im Original.
Die fette Auswahl an Medikamenten hast Du auch jetzt bei einem schubförmigen Verlauf – die mittlere Spalte ist gut gefüllt. Da sind einige neue Medikamente dazu gekommen. Vorzugsweise aus der Gruppe der “-mabs” für die aktiven Verläufe. Andere Medikamente treten in den Hintergrund, bspw. das immunsuppressive Azathoiprin.
In der linken Spalte (CIS) ist alles wie gehabt. In der rechten Spalte (SPMS) bleibt es dünn – und damit auch alles wie gehabt.
Schaust Du Dir die Medikamentenzuordnung an, bleibt ebenfalls vieles beim Alten. Die Medikation mild/moderater Verläufe entspricht größtenteils jener der Basistherapie, die Medikation der (hoch-) aktiven Verläufe größtenteils jener der Eskalationstherapie. Dabei wird dem (hoch-)aktiven Verlauf nur mit immunsuppressiven Mitteln begegnet.
Schaust Du noch genauer hin, wird Dir klar, dass mit zunehmendem MS-Drama (aktiver, progredienter Verlauf) die Therapieoptionen aggressiver werden und sich gleichzeitig gegen Null ausdünnen. Sehr ernüchternd. Auch heute noch will ich mich auf diese Optionen nicht einlassen. Auch heute noch Kampfansage pur.
Fazit: more drama – less options?
Die Quadratur des Dreiecks ist auf jeden Fall gelungen. Aktualität ist nie verkehrt. Und doch bin ich unschlüssig, ob ich für mich einen Mehrwert in der neuen Darstellung finden kann. Klar, es ist mal eine Übersicht über das, was derzeit auf dem Markt ist. Aber wie hilft mir das weiter? Wenn ich doch sehe, wie die Ideen, Methoden, Therapien immer weniger werden, je mehr Raum die MS einnimmt. Wenn ich sehe, dass es da oben rechts diese leere, weiße Fläche in der Matrix gibt. Wo weder Du noch ich jemals mit dem Finger landen wollen, wenn wir Zeile mit Spalte kombinieren. Wo die Schulmedizin selbst an “Experimentelle Verfahren” nicht ran will.
Die Matrix kann ernüchtern. Weil sie keine Antworten liefert. Weil sie eher den Finger in die Wunde legt.
Und ich stelle jetzt eine sehr provokante Frage: Was verbirgt sich hinter der große, weißen Fläche? Hinter dem großen, roten Fragezeichen? Was wäre die “letzte Option”..?
Aufgeben ist keine Option
Wie auch immer eine Antwort aussehen mag, so gilt doch dies: Aufgeben ist KEINE Option. In Zuversicht zu leben, IST eine Option. Denn wie immer es auch ausgehen mag:
“Am Ende wird alles gut. Und wenn es noch nicht gut ist, ist es noch nicht zu Ende.” (O. Wilde)
Was hältst Du von diesen Artikel? Zu unscharf. Zu provokant. Schreib mir!
P.S. Mir ist bewusst, dass die Matrix keine quadratische Form hat. Mit der Formulierung “Quadratur des Dreiecks” nehme ich mir die Freiheit des freien, kunstvollen Wortspiels.
Quellen:
[1] Haas, Judith: Multiple Sklerose. Informationen über Erkrankung und Therapie, Ein Ratgeber für Patienten und Angehörige, Acis-Verlag, München 1999.
[2] http://www.dgn.org/images/red_leitlinien/LL_2012/pdf/030-050l_S2e_Multiple_Sklerose_Diagnostik_Therapie_2014-08_verlaengert.pdf, Abruf am 08.05.2016.
Bildquellen
- 011_Grafik1_StufentherapieALT: Marit Mueller
- 011_Grafik2_StufentherapieAKTUELL: Marit Mueller
- 011_Grafik3_StufentherapieAKTUELLpfeil: Marit Mueller
- 011_BlogImage3_QuadraturDesDreiecks: Marit Mueller
Danke. Lerne durch diesen Beitrag, was mir alles erspart geblieben ist. Diagnose MS dieses Jahr und gleich ins CoimbraProtokoll. Ich will auch gar nicht wissen, wie die MS funktioniert oder was die Medizinleute für die Symptome an Namen parat haben.
Mein Körper hat eine kleine angeborene Schwäche, die vielleicht nicht passiert wäre, würde in D-Land nicht die Lüge verbreitet, dass wir hier kein Vitamin D-Mangelland seien. Diese Schwäche verstärkte sich und irgendwann hat mein Körper verlernt, Vitamin D umzusetzen. Hier setzt das Protokoll an.
Hallo und schön, dass du auf meinen Blog gefunden hast! Dass du nach der Diagnose keinen Um-/Irrweg über die Basistherapien genommen hast, finde ich gut. Hätte ich vor 17 Jahren auch alle heutigen medialen Zugänge zu gutem Wissen gehabt, hätte ich meine Extrarunden vielleicht gar nicht gedreht. Das nenne ich das “Glück der späteren Diagnose”. Aber, besser spät als nie, ich bin seit Anfang September im Protokoll! Ich wünsche dir alles Gute!
Pingback: Ich sag' mal meine Meinung | InDirZuhause.de